RE: Jommy

Kapitel 10

Judes Familie war so glücklich, dass sie wieder redete, sodass auch nicht mehr nachgefragt wurde, was sie dazu bewegt hatte. Der Vorfall mit dem gepunkteten Schlafanzug wurde totgeschwiegen und allein Sadie warf ihrer kleinen Schwester ab und zu seltsame Blicke zu, die Jude nicht deuten konnte und wollte. Sie konzentrierte sich auf Jamie und versuchte mit seinem Tod klarzukommen. Victoria musste also hilflos mit ansehen, wie Jude sich wieder mehr und mehr unter eine gläserne Glocke verzog. Sie redete, ja, aber nur über Banalitäten, wie das Wetter, Themen, die niemanden wirklich interessierten.
Am Tag vor Jamies Beerdigung klopfte Sadie an Judes Zimmertür. Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat sie den Raum.
"Jude, hey." Jude saß mit ihrem Buch, in das sie ihre Songs schrieb, auf dem Bett und starrte Löcher in die Luft.
"Hey, Schwesterchen." Jude zuckte zusammen und schaute Sadie an. Die kam langsam heran und setzte sich schließlich vorsichtig auf Judes säuberlich gemachtes Bett. Noch so eine Sache; Jude hatte sich früher nie groß um den Haushalt gekümmert. Jetzt hielt sie ihr Zimmer so sauber, als hätte sie Angst, jemand könnte sie ansprechen, weil ihr Zimmer nicht bis in die Ecke hinterm Schrank nach Hausmilben abgesucht worden war.
"Ich habe dir schon einmal gesagt, ich bin für dich da. In letzter Zeit hatte ich viel im Job zu tun und ich treffe mich ja auch mit Kwest..." Jude seufzte und lehnte ihren Kopf an die Wand.
"Komm zum Punkt, Sadie. Ich bin beschäftigt." Sadie zog eine ihrer säuberlich gezupften Augenbrauen hoch, verzichtete aber auf einen Kommentar.
"Ja, jedenfalls, wenn du reden möchtest, über Tommy oder Jamie oder über was oder wen auch immer, sag mir Bescheid, okay? Du kannst mich auch anrufen, mir anonyme Briefe schreiben, ist ja auch egal. Okay?" Jude deutete ein Lächeln an und nickte. Sadie stand wieder auf, ging hinaus und ließ eine Jude zurück, die jetzt wusste, dass sie nicht so einsam war, wie sie die ganze Zeit über dachte.

Am nächsten Morgen klingelte es schon recht früh an der Tür. Jude hatte sich schnell abgewöhnen können, die Tür zu öffnen und blieb teilnahmslos in ihrem Zimmer sitzen. Sie saß schon seit sechs Uhr morgens für die Beerdigung angezogen auf ihrem Bett und versuchte, sich zu entspannen. Sadies Schrei ("DAD!") trug auch nicht gerade dazu bei.
Super, was soll denn das jetzt? Jetzt wird Mom die ganze Zeit auf ihm herumhacken und er wird zurückhacken und Sadie wird sich die ganze Zeit zu Kwest verziehen und ich häng dann da rum...
Jude bemitleidete sich selber. Nach drei Stunden weiteren Bettsitzens kam Sadie hoch.
"Hey, Jude. Kommst du? Wir fahren." Doch Jude blieb sitzen.
"Ich kann das nicht, Sadie. Ich kann da nicht hin!" Doch Sadie ließ das nicht durchgehen.
"Ich weiß, aber du weißt, dass Jamie das auch für dich getan hätte. Jetzt komm. Ich bleib die ganze Zeit bei dir, okay?" Jude ließ sich schließlich hochziehen und auf ihre Schwester gestützt, kam sie die Treppe hinunter.

Auf dem Friedhof platzte Jude der Kragen.
"Schon gut, Sadie. Das ist ja erbärmlich, wie ihr euch die ganze Zeit heimliche Blicke zuwerft. Nun geh' schon!"
"Bist du sicher? Okay, bis dann." So schnell sie konnte und bevor Jude es sich anders überlegte, stöckelte Sadie zu Kwest.
Als sie an der Reihe war, ein paar Worte über Jamie zu sagen, bereute sie, dass Sadie nicht mehr da war. Sie brauchte irgendetwas zum Festhalten. Jude wankte durch die Menge, um zu Jamies Grab zu kommen, doch auf halben Weg verdrehte die Welt sich plötzlich. Sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war und fiel.
"Jude!" Tommy. So schnell er konnte, stieß er die anderen beiseite und eilte zu ihr.
"Verschwinde, Tommy!" Es war nicht mehr als ein Flüstern, doch sie konnte spüren, wie sehr es ihn traf. Doch dann meinte er mit überraschend fester Stimme:
"Nein, Jude. Ich habe mich entschieden, hier zu bleiben."

Liebe,
die nicht Wahsinn ist,
ist keine Liebe.