Jommy- I'm not okay

Kapitel 140

Blinzelnd warf Tommy einen Blick zum Fenster hinaus. Und erstarrte. Wieso war es geöffnet? Er war sich ganz sicher, dass es gestern Abend, als er ins Bett gegangen war, zugewesen war. Schnell stand er auf und dankte Gott, dass sein Körper sich wieder an das tägliche Laufen gewöhnt hatte und er keinen Muskelkater mehr hatte, wenn er morgens die Decke zurückschlug. Kurz trat er ans Fenster, warf einen Blick nach unten und schloss das Fenster wieder. Verwirrt zuckte er mit den Schultern. Dann drehte er sich um und schlurfte in die Küche. Und erstarrte ein weiteres Mal. Er rieb sich über die Augen, konnte kaum fassen, was er sah. "Was machst du denn hier?", brachte er hervor.
Sadie drehte sich um und lief schnell auf ihn zu. Als sie ihn erreicht hatte, warf sie ihre Arme um seinen Hals. Er war zu verdattert, um zu reagieren, doch sie ließ ihn nicht los. Erst als er begriff, dass sie weinte, legte er seine Hände auf ihren Rücken und strich langsam durch ihr Haar. "Schsch, Sadie! Alles wird gut! Weißt du noch? Das hast du mir selbst gesagt." Dabei wiegte er sie sanft hin- und her. Nach kurzer Zeit hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie sich losmachte und ihn nur noch anschaute. "Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Verstehst du? Wir waren da, lebten unser Leben weiter, während Jude keins mehr hatte. Ich musste...ich konnte doch nicht... Ich musste was tun, verstehst du? Egal was!" Er nickte. Und verstand sie nur zu gut. Seit drei Wochen war Jude nicht mehr bei ihm und jeden Tag wurde das Verlangen größer, irgendetwas zu tun. Aber WAS? "Magst du zu ihr?", fragte er leise. Sadie biss sich auf die Lippen und er musste schlucken. Das hatte Jude auch immer gemacht. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. In letzter Zeit bekam er tatsächlich Übung darin; sich nichts anmerken zu lassen. Doch jetzt war es nicht allzu schwer: Sadie beachtete ihn nicht, gedankenverloren kaute sie weiter auf ihrer Unterlippe herum. Sollte sie? Schließlich nickte sie. "Ja."

Zusammen, aber doch weit voneinander entfernt, liefen sie zum Krankenhaus.

Sobald sie durch die große Tür im Eingangsbereich getreten waren, hatte Tommy ein unheimliches Gefühl. Etwas war anders. Aber er konnte nicht sagen, was. Ob es gut oder schlecht war. Er sah Misha, die in einem Bademantel auf einem der Stühle saß, und ihm wurde noch unwohler, wenn er an gestern Abend dachte. Er war mit ihr in der Cafetaria gewesen und Misha hatte ihm von ihrem Tumor erzählt. Sie hatte berichtet, wie es war, mit der Angst herumzugehen, jeden Moment tot umzukippen, oder einen Anfall zu haben. Wie es sich anfühlte, wenn diese Angst, die sie zu unterdrücken versuchte, hervorkam und sie zu ersticken drohte. Die Vorstellung, jeder Moment könne der Letzte sein, machte ihr Angst. Und mit einem Mal war alles aus ihr herausgebrochen. Sie hatte angefangen zu schluchzen, und sie hatte versucht, die Tränen zurückzuhalten, doch es funktionierte nicht. Anfangs vielleicht, aber dann artete das Ganze in einen richtigen Weinkrampf aus und Tommy hatte nur starr dagesessen und nicht gewusst, was er tun sollte. Natürlich war ihm klar gewesen, dass er sie in den Arm hätte nehmen müssen und ihr gut zureden sollen, aber er konnte nicht. Er wusste nicht, warum, aber es war einfach unmöglich gewesen, sich zu ihr hinüberzulehnen und sie zu umarmen.

Doch das schien jetzt vergessen zu sein, denn als Misha ihn sah, sprang sie auf. "Tom!", rief sie laut. Sadie schenkte sie keinen Blick. "Tom, sie... komm mit!" Sie fasste seine Hand und rannte los. Irgendwie schaffte er es gerade noch, Sadie mit sich mitzureißen und schließlich rannten sie zu dritt durch die Flure. Tommy suchte immer wieder Mishas Blick, ob sie noch wusste, wo sie hinrannten, doch anscheinend war es kein Problem für sie, sich in dem endlosen Labyrinth zurechtzufinden, denn sie schaute kein einziges Mal zurück, sondern lief unberirrt geradeaus. Und er vertraute ihr. Er konnte nur hoffen, dass Sadie ihm vertraute. Denn der Blick, den sie Misha zuwarf, ließ ihn sicher sein, dass er ihr nicht vertraute. Schließlich hielt sie an. Vor einer unscheinbaren Tür. Tommy hatte nicht auf die Umgebung geachtet, sonst wäre er nun vielleicht weniger schüchtern auf die breite Tür zugegangen und hätte sie schneller geöffnet. Vorsichtig lugte er in den Raum hinein. Und schluckte. Sadie sah nur seinen Rücken, der auf einmal anfing zu zittern. Und dann war er verschwunden. Sadie wollte noch hinter ihm her, aber dann traute sie sich doch nicht und zog die Hand wieder zurück. Verunsichert wandte sie sich nach Misha um. Verwirrt ließ Sadie ihren Blick den Gang hinunterschweifen. Wie konnte sie bloß so schnell verschwinden?

Tommy konnte kaum glauben, was er sah. Jude lag im Bett. Und ihre Augen...sie waren so blau. Zuerst dachte er gar nichts, doch schließlich schaltete er. Jude hatte ihre Augen geöffnet. Er spürte, wie die Tränen hochkamen und lief so schnell er konnte, zum Bett. Er war sich nicht sicher, ob er nicht doch träumte. Sadie hier. Jude wach. Vorsichtig ließ er sich auf dem Bettrand nieder. "Jude?", flüsterte er. Bereit zu aktzeptieren, was unvermeidbar erschien. Doch - sie wandte den Kopf zu ihm und ein Strahlen flog über ihr Gesicht und brachten ihre Augen zum Leuchten, dass Tommy noch mehr weinen musste. "Tommy", flüsterte sie zurück. Es brach Tommy fast das Herz; ihre Stimme klang so fern, so schwach. Doch als sie ihre Arme ausstreckte, beugte er sich ohne zu zögern zu ihr hinunter und küsste sie sanft. "Soll das ein Kuss gewesen sein?", fragte sie leise und lächelte schwach. Er strahlte und küsste sie wieder - dieses Mal mit ganzer Leidenschaft, die er aufzubringen vermochte....

soo...