RE: Jommy- I'm not okay

Kapitel 141

Vorsichtig griff er nach Judes Hand. Noch immer war sie durch die Nadel mit dem Tropf verbunden, doch sie fiel Tommy kaum noch auf, so sehr hatte er sich in den vergangenen Wochen an ihren Anblick gewöhnt. Sanft strich er ihr übers Gesicht. Es fühlte sich rau an, anders als in seiner Erinnerung; da war es noch weicher gewesen. Er kümmerte sich nicht darum. Stattdessen verlor er sich in ihren Augen. Jude starrte ihn ebenfalls versunken an. Sie fühlte sich, als wäre sie kurz vom Hyperventilieren. Es kam ihr wie Ewigkeiten vor, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Und er sah unglaublich aus! Seine noch feuchten Haare lagen leicht verwuschelt und sein Blick... Jude seufzte auf. Sie spürte, wie sie ein wenig rot wurde, als sie merkte, dass sie ihn wie einen verliebten Teenager anschaute und sich auch genauso fühlte. Sie verschlang ihn ja förmlich mit den Augen. Auch, als sich seine Lippen langsam wieder ihren eigenen näherten, behielt sie die Augen weit aufgerissen. Sie hatte Angst. Angst davor, dass er wieder verschwinden könnte, wenn sie die Augen schloss. Oder dass sie verschwand. Doch als sich ihre Lippen sanft berührten, fühlte sie, dass ihre Augen wie von selber zufielen. Zuerst war sie zu besorgt, um sich dem Kuss wirklich hingeben zu können, doch je länger sie ihn nahe bei sich spürte, desto gelassener wurde sie. Nein.. gelassen war nicht der richtige Ausdruck. Desto geborgener und sicherer fühlte sie sich. Und als er sich atemlos wieder von ihr lösen wollte, schüttelte sie nur den Kopf und zog ihn wieder näher zu sich heran.
Doch schließlich bekam sie kaum noch Luft und spürte, dass ihr schwindelig wurde. Sie versuchte, es zu ignorieren, doch schließlich stieß sie Tommy schnell weg. Er richtete sich halb auf, doch sein Gesicht war noch immer nah an ihrem. Vielleicht zu nah. Jude schnappte nach Luft. Sie wedelte mit der Hand und atmete stoßweise. Tommy setzte sich ganz auf und nahm ihre Hände in Seine. "Schsch, Jude. Ganz ruhig. Du musst tief atmen. Einatmen. Ausatmen." Schließlich beruhigte sie sich wieder einigermaßen und sie bekam auch wieder besser Luft. Tief atmete sie ein. Und lächelte ihn an. In dem Moment öffnete sich die Tür erneut und eine Schwester schaute herein. "Geht es Ihnen gut, Jude? Ihre Sauerstoffzufuhr schien gerade erheblich eingeschränkt zu sein..." Jude konnte gerade noch nicken, bevor die Tür noch weiter aufgestoßen wurde und Sadie den Kopf zur Tür hineinstreckte. "Jude?", rief sie fassungslos. Als sie sah, dass ihre Schwester tatsächlich wach war, stürmte sie ebenfalls auf das Bett zu und nahm Jude vorsichtig in den Arm.
Währenddessen zog die Schwester Tommy zur Seite. "Sie müssen vorsichtig sein. Sie ist noch zu schwach, und wenn sie zu sehr angestrengt wird, könnte es sein, dass wir ein Problem haben." Sie konkretisierte das 'Problem' nicht genauer, aber Tommy konnte sich auch so vorstellen, was sie meinte und er nickte schnell. Sie warf ihm noch einen warnenden Blick zu, bevor sie den Raum verließ. Er schaute ihr kurz hinterher, dann wandte er sich wieder zu Jude um, die ihn aufmerksam beobachtete, während Sadie auf dem Bett saß und munter etwas vor sich herredete. Tommy strahlte sie beruhigend an und sie erwiderte sein Lächeln. Doch der wachsame Ausdruck in ihren Augen blieb. Schnell trat er näher an sie heran und flüsterte: "Alles ist okay. Sie meinte nur, ich soll dich nicht zu oft küssen." Sie grinste verschmitzt und gähnte. Sofort verstummte Sadie. "Bist du müde?" Tommy verdrehte die Augen zur Decke, doch Jude nickte ernsthaft. "Ehrlich gesagt, ja..." Sadie sprang auf. "Okay. Dann bis später", sie küsste ihre Schwester auf die Wange und verließ dann den Raum. Unsicher ging er wieder einen Schritt zu ihr. "Soll ich bleiben? Oder.." Sie lächelte. "Tom, ich werde schlafen. Da brauchst du nicht dabei zu sein. Das warst du in den letzten Wochen schon zu oft." Er nickte. "Okay. Ich komme aber nachher wieder." Sie nickte und spitzte die Lippen. Schnell drückte er ihr einen Kuss auf den Mund und lächelte sie unwiderstehlich an. "Tut mir leid, du weißt doch, was die Schwester ge..." Weiter kam er nicht, denn Jude hatte die Arme um seinen Hals gelegt und sich zu ihm hochgezogen, bevor sie ihm mit ihrem Kuss das Wort abschnitt. Seine Hände wanderten von ihrer Taille zum Rücken und strichen sanft über das Krankenhaushemd mit den hübschen Punkten. Es dauerte etwas, doch schließlich kam er wieder zur Besinnung und erinnerte sich. Schnell löste er sich von ihr, auch wenn ihre Lippen sich eigentlich unwiderstehlich an seine schmiegten. Als Entschuldigung gab er ihr noch einen kurzen Kuss und flüsterte: "Ich liebe dich!", bevor er sich endgültig aus Judes Reichweite begab. Er wartete noch auf Judes Antwort, die nach einigen Sekunden schmollen kam: "Ich dich auch!" Dann grinste er noch einmal und verließ den Raum. Wie beschwingt lief er den Flur hinab. Doch als er an der Tür ankam, stockte er. Wo war er hier eigentlich?
In dem Moment bog seine Rettung um die Ecke: Misha. Sie lief auf ihn zu und er fragte: "Weißt du, wie man von hier zur Cafetaria kommt?" Sie lächelte leicht und lief vor ihm her. Es dauerte nicht lange und sie standen vor der breiten Tür, die zu dem langen Essraum führte. "Danke. Hast du noch Lust auf einen Kaffee?" Sie nickte, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Versunsichert hielt Tommy ihr die Tür auf. War sie doch sauer wegen gestern? Sie setzten sich an einen der wenigen freien Tische und Tommy brachte zwei dampfende Tassen mit. Wieder lächelte sie ihn an und flüsterte fast: "Danke."
"Gern geschehen." Darauf erwiderte sie nichts und schweigend saßen sie einige Minuten da und nippten ab und an an ihrem Kaffee. Schließlich brach Tommy das Schweigen.
"Hör mal, es tut mir leid, wegen gestern." Verwundert blickte sie ihn an. "Was tut dir leid?"
Okay, anscheinend war sie nicht sauer auf ihn. "Wie ich reagiert habe." Nachdenklich richtete sie ihren Blick auf die Wand hinter ihm, doch ihre Augen schauten sie nicht an, waren vielleicht nach innen gerichtet. Sie wirkten leer, dachte Tommy. Dann wurde ihr Blick wieder klarer und sie schaute Tommy an. "Nein, ist schon okay. Du hast genau richtig reagiert. Im Moment mag ich es nicht, wenn jemand mich anfasst, insofern warst du perfekt." Er lächelte. Doch Misha sah, dass das Lächeln nicht bis zu seinen Augen reichte. Wen wunderte es? Es war mal wieder so weit gewesen. Sie hatte wieder vergessen. Es war wie jedes Mal gewesen: dunkel. Sie hatte nichts gespürt, nichts gehört, nichts wahrgenommen. Und wenn sie wieder aufwachte, hatte sie Angst. Angst, wieder in dieses tiefe Loch des Vergessens zu geraten und nicht wieder aufzutauchen. Doch sie war hier. Und wagte nicht, ihm zu erklären, was das gerade eben gewesen war. Das würde alles noch viel realer für sie selber machen. Doch sie konnte es ihm nicht verheimlichen. Sie versuchte, es aufzuhalten, es zu verhindern, doch der Schwindel hatte sie wieder. Sie krallte sich an der Tischkante fest und stemmte ihr Bein gegen den Boden. Ihr Kopf schien zu bersten. Sie schluckte, versuchte die Fassung und den Schein zu wahren. Geschockt sprang Tommy auf, als er ihr Gesicht sah. Kalkweiß. Weißer als die ganze Einrichtung hier. Ihre Lippen waren blau angelaufen und ihre Hände umfassten krampfhaft die Stuhllehne. Bitte nicht. Gerade noch rechtzeitig fing er sie auf, bevor sie fiel. Ihre Augen waren geöffnet, doch sie starrten ihn nur leer an. Ihr Mund war geöffnet, sie atmete schnell und in kurzen Zügen. Wie Jude vor nicht einmal einer halben Stunde. Und doch so anders. Bei Jude hatte er gewusst, es würde wieder vorbeigehen, sie hatte nicht die nackte Panik im Gesicht stehen gehabt.
Schnell brachte er sie zurück in ihr Zimmer und drückte den roten Knopf, bevor er begann, auf Misha einzureden. Er versuchte alles, er bat sie, aufzuwachen, befahl ihr, aus ihrer Trance zu erwachen, schrie sie an, doch sie reagierte nicht. Endlich kamen Leute hineingerannt, erkannten die Lage mit ihren geschulten Blicken und schoben das Bett weg. Zurück blieb ein geschockter Tommy.