Kapitel 144

Als Tommy im Hotel ankam, und die Tür aufschloss, sah er einen schmalen Briefumschlag auf dem Tisch liegen. Er machte einen Schritt darauf zu, während er sich verzweifelt fragte, wer ihm wohl etwas mitzuteilen hatte. Jude wohl kaum. Auch Sadie war unwahrscheinlich, mied sie ihn doch, seit sie von seiner grausamen Tat erfahren hatte. Wer also schrieb ihm?
Er hob den Umschlag hoch und hatte das Gefühl, in Ohnmacht fallen zu müssen. Er wusste, von wem er war. Misha, wer sonst. Schnell riss er den Umschlag auf und zog mit zitternden Händen den Briefbogen heraus.

Tommy!
Wenn du diesen Brief hier liest, bin ich schon weg. Ich habe eine der Schwestern gebeten, ihn bei dir vorbeizubringen, wenn...wenn es vorbei ist. Ich hoffe, du hast ihn auch schnell erhalten. Vermutlich wunderst du dich, warum ich dir schreibe, anstatt es dir gesagt zu haben. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es selber auch nicht so genau. Ich denke, ich habe einfach Angst. Wovor? Keine Ahnung. Aber im Moment habe ich vor allem Angst. Wen wundert es? Ich werde nicht mehr lange leben.
Zuerst einmal sollte ich vielleicht die Wahrheit sagen: Ich heiße nicht Misha. Frag mich nicht, wieso ich dir gesagt habe, ich heiße Misha. Es war ein Bauchgefühl, ein seltsames Gefühl, kann ich dir sagen. Dir wird ein bisschen schwindelig und dann weißt du, was du zu tun hast. Jedenfalls wusste ich irgendwoher, dass ich dir meinen richtigen Namen nicht sagen kann. Schicksal vielleicht - ich weiß es nicht. Vielleicht bist du jetzt enttäuscht, dass ich dich angelogen habe. Das tut mir leid. Aber ich habe dich nicht angelogen, als ich gesagt habe, dass ich einen Tumor habe und dass ich genau weiß, wie du dich fühlst. O ja, ich weiß es genau. Besser, als ich es mir wünschen würde.
Mein Verlobter ist gestorben, nachdem er drei Jahre im Wachkoma war. Bis zuletzt habe ich die Hoffnung bewahrt, obwohl es eigentlich keinen Grund mehr gab. Ich habe mich an einen kleinen Hoffnungsfunken geklammert, von dem ich wusste, dass er nicht existiert. Ich habe gehofft, dass er wieder aufwacht. Aber die Wahrheit war: Er wollte nicht aufwachen. Nach seinem Tod habe ich mir Vorwürfe gemacht, mir die Schuld gegeben und alles andere. Was man halt so macht. Aber nach und nach ist mir klar geworden, dass ich keine Schuld daran hatte. Er hätte nicht gewollt, dass ich solche Gefühle hätte, das weiß ich jetzt. Er hatte einfach schon zu viel erlebt, um noch glücklich werden zu können. Ich weiß, dass er mich geliebt hat und ich freue mich darauf, wieder bei ihm zu sein, wenn es vorüber ist.
Ich habe versucht, dir was von deinen Schuldgefühlen zu nehmen, damit diese schwarze Wolke von Schmerz, die sich m dein Herz gelegt hatte, wieder verschwindet und du glücklicher wirst. Es hat nichts gebracht. Du liebst Jude zu stark, als das jemand anders etwas daran ändern könnte. Ihr seid wie ich und mein Verlobter: Nur wenn wir zusammen waren, waren wir wir selber. Ohne den anderen... nichts. Zwischenzeitlich hatte ich erfolg und du warst heiter, aber es war nur oberflächlich. Ich werde dir jetzt etwas sagen und ich weiß, dass es wahr ist: Du und Jude, ihr gehört zusammen. Da wird niemand je etwas dran ändern können. Du musst daran glauben, dass sie wieder aufwacht und dass ihr glücklich werdet! Glaube daran, Tommy! Und zweifel niemals an deiner Stärke!
Misha.

Irgendwann schaffte er es, aufzuschauen. Irgendwann in der Mitte des Briefes war er zusammengebrochen. Und hatte gedacht... er wusste nicht mehr, was er gedacht hatte. "Sie hat sich geirrt", flüsterte er vor sich hin "Jude und ich...wir gehören nicht zusammen. Nicht mehr. Sie hat sich geirrt!" Es machte ihm arg zu schaffen, dass Misha sich geirrt hatte. Ja, Misha. Misha, die nicht Misha hieß und doch Misha war. Er schüttelte den Kopf. Sie, die immer mit allem Recht gehabt hatte, lag falsch. Er konnte es nicht glauben.

Schließlich erhob er sich. Er hatte keine Ahnung, wie lange er auf den kalten Fliesen der Küche gesessen hatte, aber es mussten einige Stunden gewesen sein. Unter Tränen packte er seine Dinge in den Koffer und auch Judes Sachen verstaute er. Dann stieg er in den Leihwagen und fuhr zum Krankenhaus. Vor Judes Tür stellte er ihre Koffer ab, dann flog er zurück nach Toronto.